Tragen – Für einen guten Start
ins Leben!
Tragen als Therapie? Warum nicht? Schön und praktisch ist es auf jeden
Fall!
2014 habe ich
hierzu eine tolle Fortbildung der Trageschule Dresden besucht und ich möchte
mit Euch einige dieser Erkenntnisse und Erfahrungen teilen.
Beginnen ich mit dem Artikel von Siri Lehmann, in welchem toll dargestellt ist, warum Tragen eine super Ergänzung zur Therapie darstellt und sich gut mit dieser verbindet.
„Es gibt viele
verschiedene Möglichkeiten, ein Kind mit Down-Syndrom zu therapieren. Auch als Eltern
ist man gefordert aktiv an der Therapie mitzuwirken. Es ist schön etwas für
sein Kind tun zu können und kompetent zu sein. Noch schöner ist es, wenn man
dabei auch etwas für sich tut und dies ganz nebenbei geschieht.
Ab und zu
sieht man Eltern, die ihre Kinder in einem Tragetuch oder einer Tragehilfe
tragen, anstatt sie im Kinderwagen zu schieben. Für mache mag das merkwürdig
erscheinen, aber, wenn man bedenkt, dass der Kinderwagen erst knapp 150 Jahre
alt ist und die Kinder davor immer getragen wurden, ist dies gar nicht so
abwegig.
Die meisten
Eltern tragen ihre Kinder überwiegend weil es praktisch ist.
Man hat die
Hände frei z.B. für Geschwisterkinder oder sich ein Brot zu machen und man ist
flexibler und weniger auf fremde Hilfe angewiesen wenn man unterwegs ist. Keine
Tür ist zu schmal, keine Treppe zu steil, kein Weg zu holprig. Das Einsteigen
in einen Bus stellt keine Herausforderung mehr dar. Außerdem vermeidet man mit
dem Tragen im Tuch oder einer anderen orthopädisch korrekten Tragealternative Rückenschmerzen
bei dem Tragenden, da Kinder schließlich ständig getragen werden möchten und
auf dem Arm wird dies schnell anstrengend.
Die wenigsten Eltern wissen, was genau sie mit dem
Tragen alles für ihr Kind Gutes tun.
Sie unterstützen damit die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes
und das ganz nebenbei. Dies ist wichtig für alle Kinder, aber für Kinder mit
Entwicklungsverzögerungen wird es zu einer richtigen Chance, die man zusätzlich
zu Therapieeinheiten nutzen kann. Warum das so ist, werden Sie im Verlauf des
Artikels feststellen.
Zuerst möchte
ich Ihnen erklären, warum dieser ständige Körperkontakt, vor allem im ersten
Lebensjahr, so wichtig für unsere Kinder ist.
Bevor ein
Mensch geboren wird, lebt er in einer Umgebung die von ständiger Berührung,
Enge, Wärme und vertrauten Geräuschen geprägt ist. Es spürt sich mit jeder
Bewegung selbst und „schwebt“ schwerelos im Fruchtwasser. Dass alles vermittelt
ihm Sicherheit und Geborgenheit. Nach der Geburt ist plötzlich alles anders. Es
ist kalt, laut, die Begrenzung fehlt und die Schwerkraft lastet wie Blei auf
den Gliedern. Oftmals wird von dem Säugling verlangt, der im Mutterleib niemals
Hunger leiden musste und immer den beruhigenden Herzschlag seiner Mutter hörte,
auf sein Essen zu warten oder gar allein in einer Wiege zu liegen. Er beginnt
zu schreien. Und dieses Schreien ist ein Hilferuf. Es ruft nach seiner
Bezugsperson. Dieses Schreien ist keine Willkür, sondern eine Art Reflex, der
vor langer Zeit das Überleben sicherte. Vor Millionen Jahren waren die Zeiten
zu gefährlich einen Säugling abzulegen. Unsere Vorfahren waren Nomaden, immer
unterwegs und in Bewegung und so war es völlig natürlich die Kinder immer bei
sich zu tragen. Tragen bedeutete Mitgenommen werden und somit Sicherheit.
Unsere heutige
Gesellschaft ist viel zu jung, die Zeit viel zu kurz, als dass die Natur die
Möglichkeit gehabt hätte unsere Instinkte zu verändern. Der menschliche
Säugling ist ein „Tragling“, der evolutionsbiologisch zum Getragen werden
konstruiert wurde, was man an den Verhaltensweisen gut erkennen kann. Der
Palmar-Reflex (Greif-Reflex), der Moro-Reflex, die Spreiz-Anhockhaltung der
Beinchen die der Säugling meist einnimmt wenn man sich ihm nähert, sind nur
einige Beispiele dafür.
Ein Kind zu tragen, heißt ein Grundbedürfnis zu befriedigen. Kinder
brauchen die Nähe und Geborgenheit wie die Luft zum Atmen um sich optimal zu
entwickeln. Es stärkt die Bindung zwischen Mutter/Vater und Kind unterstützt
die physische und psychische Entwicklung der Kleinen.
Aber warum ist das so?
Im Grunde ist
der Mensch eine physiologische Frühgeburt. Durch den aufrechten Gang und die
Änderungen der anatomischen Gegebenheiten, die dadurch stattgefunden haben
(v.a. des weiblichen Beckens und der Vergrößerung des fötalen Gehirns), wurde
es notwendig, dass der menschliche Säugling immer früher auf die Welt kommen
musste, da sonst der Kopf nicht mehr durch das Becken der Mutter gepasst hätte.
Er ist
sozusagen unfertig und unreif. Die Wirbelsäule nur
bedingt stabil, die Hüftgelenke noch
nicht fertig entwickelt und auch die Gehirnentwicklung befindet sich im
Anfangsstadium.
In diesem
Stadium, vor allem im ersten Lebensjahr, schreitet die Entwicklung der Kinder
rasend voran und das Gehirn ist am aufnahmefähigsten. Jeder Input, der
geliefert wird, wirkt sich positiv auf die Entwicklung aus und dies ist
besonders wichtig für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen.
Interessant
ist, dass im Mutterleib bereits sämtliche Sinnessysteme funktionieren. Das
vestibuläre System (der Gleichgewichtssinn) bildet sich bereits in der
Frühschwangerschaft aus, etwa um die 8. Schwangerschaftswoche herum.
Ein
Neugeborenes kann mit allen seinen Sinnen seine Umwelt wahrnehmen.
Durch die
verschiedensten Reize – akustische, haptische (berühren), olfaktorische
(riechen) und visuelle – werden diese Systeme angeregt immer neue Nervenbahnen
und Nervenzellverbände im Gehirn zu formieren und zu stabilisieren.
Man geht davon
aus, dass das vestibuläre System und seine stabilisierenden Eigenschaften das
Wachstum und die Verknüpfung der Netzwerke aller anderen Wahrnehmungssysteme
begünstigen. (Quelle „Ins Leben tragen“ v.
Schrader/Manns)
Wird ein Kind
getragen, werden sämtliche dieser Bedingungen erfüllt. Alle Tiefensinne werden angesprochen und angeregt. Das
Kind macht alle Bewegungen des Tragenden aktiv mit, es spürt sich und sein
Gegenüber am ganzen Körper, es hat die Möglichkeit seine Bezugsperson zu
riechen, es kann den Herzschlag hören und ist in der Lage mit seinen zuerst
noch begrenzten Möglichkeiten den Tragenden zusehen, da er sich in einem
optimalen Abstand befindet.
Später, wenn
die Entwicklung des Sehens weiter fortgeschritten ist, hat das Tragen noch
einen positiven Effekt. Durch die erhöhte Position hat das Kind einen guten
Rund-um-Blick und kann Dinge, die es sieht, mit Geräuschen, die dadurch
verursacht werden, verbinden (z.B. bellender Hund, hupendes Auto). Die
Auge-Ohr-Koordination wird dadurch angeregt. Außerdem kann das Kind aus einer
sicheren Position (secure base) die Welt erfahren.
Gerade Kinder
mit Entwicklungsverzögerungen profitieren sehr durch diese Stimulation. Durch
das Tragen wird mit dem Gleichgewichtssinn ständig „geübt“, was sich positiv
auf die motorischen Fähigkeiten (z.B. Laufen lernen) auswirkt.
Sie bewegen
sich ständig aktiv mit und müssen Ausgleichsbewegungen ausführen.
Kinder, die
die Möglichkeit haben, sich selbst in ihrem eigenen begrenzten Rahmen zu
bewegen, lernen viel mehr und viel schneller, als wenn wir Ihnen diese
Bewegungen abnehmen.
Das
Castillo-Morales-Konzept zum Beispiel beinhaltet die Förderung der motorischen
und sensorischen Fähigkeiten.
Bei den
Eingeborenen Argentiniens, bei denen Dr. R. Castillo Morales auswuchs, konnte
er erkennen, dass diese die Entwicklung ihrer Kinder durch direkten
körperlichen Kontakt fördern. Die Kinder dort werden getragen, ein anderes
Transportmittel gibt es nicht.
„Die Therapie
orientiert sich an der normalen sensomotorischen Entwicklung des Kindes.
Propriozeptive Erfahrungen werden durch Behandlungstechniken wie Zug, Druck und
Vibration verdeutlicht und die visuelle Orientierung im Raum Haltungsstabilisierend
genutzt. Die Kinder werden aufmerksamer, offener und motivierter, nehmen ihre
Umwelt besser auf, werden fähiger zur Kommunikation und probieren mehr aus.
Es wird
intensiv an der Stützfunktion der Füße gearbeitet, die Kinder werden so früh
wie möglich vertikalisiert, am bestem am Körper der Eltern.“ (Zitat
www.castillomoralesvereinigung.de)
Eine
Haltungsstabilisierung wird durch ein korrekt gebundenes Tragetuch oder eine
gut sitzende Komforttrage gewährleistet. Das Augenmerk liegt dabei auf der
Unterstützung der natürlichen Haltung des Kindes. Das Kind darf nicht in sich
zusammensinken. Gerade bei einem herabgesetzten Muskeltonus wird die Wirbelsäulenmuskulatur
durch die Tragehilfe gut unterstützt trainiert.
Im
Castillo-Morales-Konzept wird auch von der „motorischen Ruhe“ gesprochen
Zitat „Die
Haltung der motorischen Ruhe reduziert Massenbewegungen, die Aufmerksamkeit des
Kindes wird verbessert und durch den richtigen, dem Kind und seinen Fähigkeiten
angepassten Augenabstand, wird dem Kind schon in einem frühen Lebensalter das
Fixieren ermöglicht. Der Rumpf wird stabilisiert, der Tonus und die Atmung
regulieren sich und so kann eine verbesserte Kopfkontrolle erreicht werden.“
Durch das
Einbinden in ein Tragetuch wird der Rumpf stabilisiert und wie oben beschrieben
erhält das Kind eine erhöhte Position und zum Tragenden einen optimalen
Augenabstand.
Wenn man dem
Kind im Tragetuch zudem die Möglichkeit gibt durch eine Unterstützung der Füße
selbst Druck auf und abzubauen, trainiert dies die Muskulatur zusätzlich und
auch unkontrollierte Massenbewegungen werden durch das „Eingebunden sein“
vermieden.
Das Tragen ist
ein Aspekt im Castillo-Morales- Konzept, dem man etwas mehr Aufmerksamkeit
widmen könnte.
Des Weiteren
lernen hypotone Kinder durch Unterschiede. Durch die Nähe und den direkten
Körperkontakt zum Tragenden spürt das Kind seinen eigenen Hypotonus im
Gegensatz zur Körperspannung des Tragenden. Es wird versuchen, auch durch die
direkte Nähe zur Bezugsperson motiviert, sich dieser Spannung anzunähern. Eine
physiologische Körperspannung wird es dadurch zwar nicht erreichen, aber es
wird in der Lage sein, Unterschiede selbst zu bilden. Wenn man dem Kind noch
die Möglichkeit gibt sich z.B. mit den Füssen abzustützen, durch eine separat
gebundene Bahn des Tragetuches oder einen Außensack, und es ihm somit
ermöglicht durch Druckauf- und abbau seine Spannungszustände selbst zu
regulieren, fördern wir weiterhin seine Eigenständigkeit und helfen ihm dabei,
durch eigene Bewegung zu lernen (siehe auch „Kinaesthetic Infant Handling“ Lenny
Maietta/Frank Hatch).
Durch den
Hypotonus ist es sehr wichtig das Kind fest einzubinden, damit es nicht in sich
zusammen-
sackt. Durch
den direkten Körperkontakt dabei ist der Tragende allerdings auch in der Lage,
auf jede Veränderung des Kindes sofort zu reagieren.
Auch bei der
Hüftentwicklung kann das Tragen eine große Unterstützung sein.
Um eine
optimale Ausreifung der Hüftgelenke zu gewährleisten, ist es notwendig die
Hüftköpfe in den Hüftpfannen zentriert zu halten. Wie man in der oberen
Bilderserie sehen kann, nimmt ein Kind automatisch eine für die Hüfte optimale
Haltung ein. Wird diese Haltung im Tragetuch oder einer andren geeigneten
Tragehilfe unterstützt, wird zudem durch die ständige Bewegung die Durchblutung
angeregt, was ebenfalls die Entwicklung des Hüftgelenkes begünstigt.
Mal abgesehen
von den ganzen körperlichen Vorteilen der Kinder darf man die Vorteile des
Tragens für die Eltern nicht vergessen.
Der ständige
Körperkontakt beim Tragen kann eine unermessliche Hilfe beim Aufbau einer guten
Eltern-Kind-Bindung sein.
Aber nicht nur
auf Seiten des Kindes. Ein schwerer Start, gerade wenn man ein besonderes Kind
bekommen hat, kann die Bindung zum Kind erschweren. Man muss sich selbst über
seine Gefühle klar-werden, sich selbst ordnen und mit dieser Situation fertig
werden. Den Säugling ganz nah im Tuch bei sich zu haben, zu riechen und zu
fühlen kann dabei helfen anzukommen. Auch den Schutz gegenüber der Außenwelt
darf man nicht vergessen. Wie angenehm ist es doch, anfangs mit dem
eingekuschelten Kind spazieren gehen zu können, ohne sich ständig erklären zu
müssen.
Das einzige,
worauf man bei besonderen Kindern achten sollte, ist die Art des Tragens. Eine
pauschale Empfehlung welche Tragehilfe geeignet ist kann man nicht geben. Durch
die unterschiedlichen Ausprägungen der verschiedenen Symptome die das
Down-Syndrom mit sich bringt, werden an die Tragehilfen verschiedene Ansprüche
gestellt. Auch ist nicht jede Trageposition für jedes Kind gleich gut geeignet.
Um diese herauszufinden ist es wichtig sich mit dem behandelnden Therapeuten
zusammenzusetzen und dies am besten mit einer erfahrenen Trageberaterin oder
einem Trageberater zu besprechen und auszuprobieren. Das Binden eines
Tragetuches ist auch nicht besonders schwer. Mit der richtigen Anleitung ist
dies leicht zu erlernen.
Im Grunde
genommen ist das Tragen für alle Kinder wichtig, egal ob gesund oder besonders
– alle können davon profitieren.
Literaturliste
und Quellenangaben:
Dr. Evelin
Kirkilionis „Ein Baby will getragen sein“ und „Bindung stärkt“
Anja Manns/Anne
Chr. Schrader „Ins Leben tragen“
www.castillomoralesvereinigung.de
„Kinaesthetic Infant Handling“ Lenny Maietta/Frank Hatch
“Körperkontakt”
Ashley Montague
“Auf Mama´s
Hüfte reiten” Artikel in orthinform Dr. Ewald Fettweis